Kurzreise über Wasser

Es ist Freitagnachmittag, der 12. Oktober 2017, um 16:00 Uhr. Der Himmel ist leicht bewölkt und nur einige Sonnenstrahlen dringen durch die dicke Wolkendecke. Ich gehe die steinernen Stufen neben dem Vereinshaus runter zum Ufer. Dort stehen bereits die anderen fünf Ruderteilnehmer*innen und die beiden Lehrkräfte und beraten die Aufteilung der Crews. Ich bin erstaunt, wer in diesem Semester bei diesem Ruderkurs dabei ist. Ich stelle mich dazu und teile den anderen mit, dass ich mich heute in ihre Gruppe einreihen möchte. Rudern ist auch Gruppensport. Wenn jemand dazu kommt, bedeutet dies nicht einfach nur, derjenige ist mit dabei, sondern auf einmal sitzen diese Menschen gemeinsam in einem Boot. Ob es zwischenmenschliche Irritationen gibt oder nicht, darf dann keine Rolle spielen, denn sitzt man in einem Boot, wird aus Individuen ein Team, also eine Bootscrew, in der die Mitglieder kooperieren und sich auf einander verlassen müssen. Das wird mir in diesem Augenblick, während ich in der mir fremden Gruppe stehe, bewusst. Lasse ich mich darauf ein, ein Teil der Crew zu werden? Zumal ich auch meine 10-jährige Patentochter mit an Bord nehmen möchte? Ich lasse mich darauf ein; und die anderen auch. An dieser Stelle, vielen herzlichen Dank, dass ihr mich in eurem Team, eurer Crew, habt dabeisein lassen.

So stehen wir, „alle Neune“, vor den hölzernen Vereinsgebäuden, in denen sich die verschiedensten Ruderboote befinden, mit Blick auf den Kleinen Wannsee und die Auswirkungen der letzten herbstlichen Naturgewalten: Vom Sturm ist ein großer Baum umgefallen und versperrt nun einen der Stege, die sich eigentlich sonst bequemen sollen, uns den Weg in das Wasser zu erleichtern. Der Steg ist mit rotweißem Flatterband gesperrt, der Baum liegt mit seinen langen Ästen halb im Wasser und halb auf dem Steg. Seine Äste sind noch dicht belaubt und die Blätter rascheln leise, obwohl kaum ein Lüftchen weht. Unsere kleine Gruppe wartet auf Anweisungen von Frau Schmidt und Herrn Pelzer, die beiden Lehrkräfte, die diesen Ruderkurs leiten und den Kollegiat*innen das Rudern näherbringen wollen.

Zwei Boote sollen es heute werden, eigentlich jeweils für vier Ruderer und einen zusätzlichen Steuermann (bzw. Steuerfrau) gedacht. So werden die beiden Boote also nicht voll besetzt sein und es wird für uns Jungruderer anstrengender, die hölzernen Gefährte durch das Wasser zu bewegen. Außerdem wird ja noch ein kleines Mädchen als Gast in der Spitze eines der Boote sitzen und während der Fahrt, eingekuschelt in Jacken und Tücher, einschlafen und nicht viel von der Fahrt über das Wasser miterleben. Ein geschäftiges Treiben beginnt. Es ist geklärt, wer mit wem im Boot sitzen wird. Die beiden Boote werden in der Bootsliste ausgetragen, einige kümmern sich bereits um die Skulls, also die Ruder, mit denen wir später die Boote im Wasser antreiben. Sie werden schon bereitgelegt, ein Steuerbord- und ein Backbordskull bilden immer ein Paar. „Mannschaft ans Boot!“, die Stimme ist leise, aber eindringlich. Wir stehen wieder in der Bootshalle und sind dabei, die „Lauenburg“ aus ihrem Liegeplatz zu holen. „Hebt auf!“ Alle gleichzeitig heben wir die „Lauenburg“ an und tragen sie nach draußen, auf den noch benutzbaren Steg. Wir legen das Boot vorsichtig auf eine Rolle am Ende des Steges und lassen das Boot zu Wasser.

Alle packen mit an. Alle, bis auf den kleinen Fahrgast. Sie übt auf dem Steg das Trockenschwimmen, falls etwas mit dem Boot auf dem Wasser passieren sollte. Das Boot schwimmt nun – noch schaukelnd an der Leine, bis es an den Steg herangezogen wird. Neben dem Steg liegt es ganz still da und macht den Eindruck, als warte es auf die Dinge, die da kommen. Schüchtern steht das Mädel da und staunt nicht schlecht über das Gefährt, in dem sie gleich sitzen wird. Das zweite Boot wird gerade zu Wasser gelassen. Es ist die rot-weiße „Europa“. Auch sie ist eine schon etwas ältere Bootslady, der man anmerkt, dass sie bereits viel Zeit auf dem Wasser verlebt hat. Sie strahlt eine Erfahrung aus, die uns noch abgeht. Ihr Holz glänzt leicht vom Schiffslack und lässt ihre Narben noch eindrucksvoller erscheinen. Ihre messingfarbenen Ruderhalter, die Dollen, geben der „Europa“ etwas Edles.

Ruhe beginnt sich bereits über alles auszubreiten, auch wenn wir unsere Handgriffe noch zügig und fest ausführen. Diese Atmosphäre lädt dazu ein, sich entschlossen, aber schon mit einer gewissen Gelassenheit in das Boot zu setzen, die Skulls in die Hand zu nehmen und im Gleichtakt des vorgegebenen Rhythmus der Steuerfrau, Frau Schmidt, die Blätter in das Wasser zu tauchen und, mit dem Rücken voran, durch das Nass zu gleiten. Wir steigen ein und setzen uns bereit, so dass wir es in den nächsten zweieinhalb Stunden einigermaßen bequem auf den Rollsitzen haben. Zuerst die „Europa“, danach legt die „Lauenburg“ vom Steg ab und beide Boote fahren über das Wasser. „Wende über Backbord“ ruft es da vom Heck. Moment einmal! Auf einmal purzeln die Richtungen und Kommandos wie wild in meinem Kopf durcheinander. Backbord ist links, vom Heck aus gesehen, und das immer. Wie sitzt der Ruderer noch gleich? Mit dem Rücken in Fahrtrichtung – Blick zum Heck oder eben „nach Achtern“. „Los!“, das Kommando muss ausgeführt werden. Die Skullblätter sinken ins Wasser. Eigentlich sollten wir gemeinsam arbeiten. Eigentlich. „Gut, das machen wir gleich nochmal.“ Frau Schmidt erklärt noch einmal kurz den Ablauf der Wende und das Eintauchen der Blätter. Sie ist ganz entspannt, ich dagegen merke, wie lange es doch her ist, dass ich im Ruderboot saß. Die Wende dauert, aber wir drehen uns irgendwann in die richtige Richtung und es kann „Alles vorwärts“ gehen. „Los!“. Wir nehmen Fahrt auf und plötzlich ist alles wieder da. Die Handhaltung, das Drehen der Skulls, das leichte Vorbeugen des Oberkörpers und Öffnen der Arme, um sich mit Kraft nach hinten abzudrücken, damit die „Lauenburg“ in Fahrt bleibt. Manchmal wird es ein Rhythmus, den wir drei da, mit den Skulls, gemeinsam hinbekommen. Nur gelegentlich wird es ein Nacheinander. Und nun nehme ich wahr, was schon die ganze Zeit mitschwang: Zufriedenheit, die sich ausbreitet und mit den immer gleichen Ruderbewegungen meinen Körper erfasst. Trotzdem bleibe ich konzentriert, denn ich muss mich dem Rhythmus meiner Ruderkollegen anpassen. Dadurch werden wir mit jedem Schlag, den wir machen, immer mehr eine Einheit: mit der Crew, mit der „Lauenburg“ und mit der Umgebung. Das Ufer zieht an uns vorbei, wir fahren zügig an ihm entlang. Wir sind in Bewegung, ganz gleichmäßig und still. „Stoppen – stoppt!“, unsere Steuerfrau lässt uns auf dem Wasser kurz innehalten. „Blätter – ab!“. Ich nutze die Zeit und drehe mich nach meiner kleinen Reisebegleiterin um. „Irem?“ – es kommt keine Antwort. Mein Ruderkollege dreht sich zu ihr um. Er sitzt mit dem Rücken zu ihr. Dann schmunzelt er, „Die schläft“. Die Ruhe hat sich scheinbar im Bug versammelt und den kleinen 10-jährigen Wirbelwind zum Schlafen gebracht. Es ist einfach fantastisch auf dem Wasser.

Der Blick vom Boot aus auf die umliegenden Villen mit ihren Gärten, dem anliegenden Wald auf der anderen Seite des Ufers, die Enten, die quakend über das Wasser ziehen – alles ist in abendliche Stille getaucht. Die Wolken sind aufgerissen und lassen Himmel sehen. Wir rudern weiter. Plötzlich ein Ruf: „Warschau!“ Unsere Steuerfrau macht auf uns aufmerksam. Uns kommt zielstrebig ein anderes Boot auf unserem Weg entgegen. Damit es nicht zur Kollision kommt, wechseln wir, nein nicht kurz die Stadt von Berlin nach Warschau, sondern korrigieren leicht unsere Fahrtrichtung. Die anderen Ruderer wurden auf uns aufmerksam und alles ging gut, ganz ohne Zusammenprall und möglichem Kentern.

Wir kommen am Griebnitzsee an, treffen auf „Europa“, die bereits auf uns wartet und machen gemeinsam noch einmal eine kleine Verschnaufpause, bevor es für uns wieder zurück geht, an den Heimatsteg. Dort wieder angekommen, ist die Sonne mittlerweile fast untergegangen. Durch die letzten Lichtstrahlen wird alles in rot-violettes Licht getaucht. Der kleine Fahrgast vorne im Boot wird geweckt. „Fertig machen zum Aussteigen!“ Wir „Lauenburger“ halten uns mit der rechten Hand am Steg, mit der linken noch beide Skulls fest. Wir ruckeln uns alle zurecht, damit wir aussteigen können, ohne das Boot am Ende doch noch zum Kentern zu bringen. „Steigt aus!“. Der Körper ist von der Sitzhaltung noch etwas behäbig und ein elegantes Aussteigen wird zu einem „He! Pass doch auf und schaukele das Boot nicht so!“ Routiniert sieht anders aus, aber am Ende stehen wir „alle Neune“ am Steg; und das trocken. Auch der kleine Wirbelwind, der so gar nicht wirbelt, sondern drängelt – sie möchte ins Warme -, ist inzwischen wieder wach und steht bei uns auf dem Steg. Schnell wird sie gegen das Frieren dick eingepackt, damit wir uns um die Boote kümmern können. Während die einen noch dabei sind, sich zu ordnen, genießen andere noch einmal den Blick über das Wasser. Die Gedanken dürfen noch einmal zurückrudern, bevor die abschließenden Handgriffe getan werden wollen. Die Skulls kommen zurück an ihren Platz, die Boote werden aus der Liste der ausgefahrenen wieder ausgetragen, dann kommen „Europa“ und „Lauenburg“ zurück an ihre Plätze. Sie haben für heute Feierabend.


TEXT und BILDER: Julia Kasperski (A45) | Ergänzungskurs Redaktionelles Schreiben)